Der »Driburger Kreis« trifft sich dieses Jahr vom 23.-24. September in Erfurt und findet wie üblich im Vorfeld der Jahrestagung der »Gesellschaft für die Geschichte der Wissenschaften, Medizin und Technik« (GWMT) statt. Der »Driburger Kreis« ist ein informelles Forum, bei dem Studierende, Promovierende und Nachwuchswissenschaftler/innen der Medizin-, Wissenschafts- und Technikgeschichte und angrenzenden Disziplinen eigene Forschungsarbeiten zur Diskussion stellen können. Willkommen sind neben klassischen Vorträgen auch Werkstattberichte und andere Formate, die eine konstruktive Diskussion des jeweiligen Projekts einschließlich eventuell auftretender Probleme erlauben. Vorschläge außerhalb des Rahmenthemas sind ebenfalls willkommen. Das diesjährige Rahmenthema lautet:
Toxikalität
Das Wort „Toxizität“ ist den meisten Wissenschaftshistorikerinnen und -historikern ein Begriff, gehört er doch im Bereich der Naturwissenschaften zum gängigen Vokabular. Das Spektrum Online Lexikon definiert „Toxizität“ als das „Maß für die schädliche oder tödliche Wirkung einer chemischen Substanz oder physikalischen Einwirkung auf einen lebenden Organismus“. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch bedeuten „toxisch“ und „Toxizität“ zumeist „giftig“ und „Giftigkeit“ und im Volksmund hat sich dieser Gebrauch, insbesondere auf chemische Substanzen bezogen, durchgesetzt. Unter dem Begriff „Toxikalität“ möchte der Driburger Kreis eine wissenschafts-, technik- und medizinhistorische Diskussion anregen, die über diese chemische Definition hinausgeht.
Im 21. Jahrhundert spielen Langzeitfolgen von Chemikalien eine große Rolle – sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in der historischen Wissenschaftsforschung. Meistens werden dabei Farbstoffe, Pestizide und Umweltschadstoffe berücksichtigt. Glyphosat ist toxisch, ebenso wie große Mengen Stickoxide in Innenstädten. Die zunehmenden Erkenntnisse über Langzeitfolgen und die diesbezüglich noch größeren Unsicherheiten, verunsichern die Gesellschaft seit Jahrzehnten. Niemand möchte sich mit toxischen Substanzen umgeben. Diese Sorge führt seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf der einen Seite zu einer immer stärkeren Ablehnung der Chemie, auf der anderen Seite entwickelte sich so ein Netz aus wissenschaftlicher Forschung, Verbraucherschutzmaßnahmen und gesetzlichen Regulierungen (vgl. Stoff 2014; Homburg und Vaupel 2019). Das öffentliche Interesse für die Wirkung chemischer Stoffe und die Verknüpfung der Begriffe „chemisch“ und „giftig“ wird besonders anhand von Rachel Carsons Monographie Silent Spring (1962) deutlich. Dort werden vor allem die schädlichen Auswirkungen des Pestizids DDT thematisiert und in dem Zusammenhang setzt sich Carson kritisch mit dem Verhalten von Regierungen und der chemischen Industrie auseinander. Diese seien bewusst große Risiken eingegangen und haben die Bevölkerung nach Möglichkeit im Unklaren gelassen. Das Buch wurde heftig diskutiert und angegriffen – es wurde zum Politikum. Die Toxizität und der Umgang mit Risiken für Menschen und ihre Umwelt haben also einen bedeutenden Einfluss auf politische und gesellschaftliche Diskurse und auf wissenschaftliche Arbeit. Allerdings ist dieses negative, vor allem chemische und medizinische Verständnis nur eine (wenn auch die prominenteste) Facette des Begriffs „Toxizität“.
Unter dem Begriff der „Toxikalität“ sollen nicht nur die chemisch-wissenschaftlichen Aspekte berücksichtigt werden, sondern auch die sozial-psychologische Perspektive. Es können nicht nur physikalische und chemische Wirkungen als giftig empfunden und beschrieben werden, sondern auch zwischenmenschliche oder interinstitutionelle Beziehungen.
Toxikalisch war beispielsweise das Verhältnis zwischen Robert Koch und Louis Pasteur. Ihr Konkurrenzkampf um die Aufklärung und Behandlung mikrobieller Infektionen, der zusätzlich durch die angespannte politische Situation zwischen Frankreich und Deutschland beeinflusst wurde, prägte den wissenschaftlichen Diskurs um die Welt der Mikroben im 19. Jahrhundert. Toxikalische Verhältnisse können aus rein wissenschaftlichen, aber auch aus wissenschaftlich-politischen und auch gesellschaftlichen Gründen entstehen oder verstärkt werden. Es gibt zahlreiche Beispiele von Wissenschaftlern, die mit Regierungen oder anderen gesellschaftlichen Institutionen in Konflikt gerieten. So ließe sich das Verhältnis von Galileo Galilei und der katholischen Kirche durchaus als toxikalisch beschreiben.
Ein Beispiel für institutionelle Toxikalität ist die „Académie royale des science“, die während der französischen Revolution wegen ihres aristokratischen Charakters verboten wurde. Erst 1816 erhielt die Nachfolgeorganisation ihren Namen „Académie des science“ wieder zurück. Auch die „École normale supérieure“ hatte im 19. Jahrhundert mit Einschränkungen und Unterdrückung durch die häufig wechselnden Regime zu kämpfen und musste sich behaupten lernen. Kein Wunder also, dass beide Institutionen in bestimmten Zeiträumen ein eher toxikalisches Verhältnis zu ihrer Regierung hatten.
Streitigkeiten um Forschungsergebnisse, um die Anerkennung von Entdeckungen oder auch um freie, nicht zensierte/indoktrinierte Lehre und Forschung sind in der wissenschaftlichen Welt keine Seltenheit und nehmen bisweilen kritische oder gar gefährliche Formen an. Umso wichtiger scheint es, auch diese Faktoren in der „Toxikalität“ mitzudenken, so wie es der diesjährige Driburger Kreis tun wird.
Paulina Gennermann
Universität Bielefeld
Wer am Driburger Kreis teilnehmen möchte, schickt bitte ein kurzes Abstract (eine Seite) für eine max. 25-minütige Präsentation nebst Kurzlebenslauf zusammengefasst in einem pdf an: carola.ossmer@leuphana.de, l.richter@em.uni-frankfurt.de und caroline.bauer@posteo.de. Einreichungsfrist ist der 1. Juni 2020.
Wer sowohl am Driburger Kreis als auch an der Tagung der GWMT teilnimmt, kann voraussichtlich einen Reisekostenzuschuss erhalten. Das ausgefüllte Antragsformular (siehe Homepage der GWMT) ist bis zum 15. August 2020 per Mail als pdf beim Vorsitzenden und beim Schriftführer der GWMT einzureichen: Prof. Dr. Carsten Reinhardt: carsten.reinhardt@uni-bielefeld.de und PD Dr. Alexander von Schwerin: schwerin@mpiwg-berlin.de.
Literatur
„Toxizität“, in: Lexikon der Biologie, Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag, 1999, URL: https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/toxizitaet/67087 (gesehen am: 17.02.2020).
„Histoire de l’Académie des science“, URL : https://www.academie-sciences.fr/fr/Histoire-de-l-Academie-des-sciences/histoire-de-l-academie-des-sciences.html (gesehen 17.02.2020).
Carson, Rachel, Silent Spring, London: Penguin Books, 1962 (reprint).
Dhombres, Nicole und Jean, Naissance d’un pouvoir: science et savants en France (1793-1824), Paris: Payot, 1989.
Garnier, Chanoine Adrien, Frayssinous. Son rôle dans l'Université sous la Restauration (1822-1828), Paris, Auguste Picard, 1925.
Homburg, Ernst; Vaupel, Elisabeth, Hazardous Chemicals. Agents of Risk and Change, 1800-2000, New York: Berghahn Books, 2019.
Jeannin, Pierre, Deux siècles à Normale Sup'. Petite histoire d'une grande école, Paris, Larousse, 1994.
Stoff, Heiko, Gift in der Nahrung. Zur Genese der Verbraucherpolitik Mitte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Franz-Steiner Verlag, 2015.
Tiemann, Maren, „Großer Streit um die Welt des Kleinen“, Rezension 17.12.2015, URL: https://www.spektrum.de/rezension/buchkritik-zu-robert-koch-und-louis-pasteur/1389889 (gesehen am: 17.02.2020).
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